Ruhr-Uni-Bochum

"In interdisziplinärer Arbeit ist nichts selbstverständlich"

Ein Interview mit Mary Shnayien zu queerer Sicherheit, Science Wars und der Kunst, interdisziplinär zu arbeiten.

Mary Shnayien ist seit Anfang Dezember 2022 Akademische Rätin an der Universität Paderborn. Sie war bis November 2022 assoziierte Postdoc am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und zuvor Doktorandin am interdisziplinären NRW-Forschungskolleg „SecHuman – Sicherheit für Menschen im Cyberspace“ an der RUB.
(Interview vom 29. November 2022)

SecHuman: Mary, Du hast kürzlich den Preis der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität (GDF) für Deine Dissertation zum Thema „Vom Wunsch nach Sicherheit. Eine Betrachtung negativer und queerer Sicherheit in Kryptologie und Informatik“ erhalten. Könntest Du einmal für Nicht-Expert*innen erklären, womit Du Dich in Deiner Dissertation beschäftigt hast?

Mary Shnayien: Ja gerne. Meine Arbeit besteht aus mehreren Teilen, zunächst aus dem Teil, in dem ich mich damit beschäftigt habe, die Geschichte der Kryptografie und der Kryptologie nachzuvollziehen – und die Frage zu stellen, was Sicherheit innerhalb dieses Fachs überhaupt bedeutet. Darauf aufbauend habe ich mich mit IT-Sicherheit befasst und ebenfalls gefragt, was die Aussage „das ist sicher“ in der IT-Sicherheit eigentlich heißt. Sicherheit in diesen beiden Bereichen wird in der Regel als Sicherheit vor etwas konstruiert. Wir haben es hier also mit einem so genannten negativen Sicherheitsbegriff zu tun. Ich habe anschließend versucht, dies mit einem so genannten queeren Sicherheitsbegriff zu kontrastieren, der aus dem queeren Aktivismus insbesondere zur Zeit der AIDS-Krise stammt. Den Aktivist*innen ging es um die Frage, wie Sicherheit zur Zeit der AIDS-Krise aussehen kann – und zwar vor allem anders, als es damals im Mainstream gedacht wurde. Durch den Aktivismus aus den frühen Communities wurde beispielsweise dann das Konzept des ‚safer sex’ entwickelt, das es vorher so nicht gab. Also habe ich mich gefragt, wie eine Form von queerer Sicherheit für, in und mit digitalen Medien vielleicht aussehen könnte.
Ich konnte dann herausarbeiten, dass das Konzept von IT-Sicherheit nicht nur basierend auf der Kryptografie entstanden ist, sondern beispielsweise auch auf der AIDS-Krise. Das war zeitlich gesehen die gleiche Phase, in den 80er und 90er Jahren. Da gab es die ersten Querverbindungen aus der IT in die Biologie und Medizin – also Leute aus der IT-Sicherheit, die sich u.a. mit der Funktionsweise des Immunsystems beschäftigt haben und begonnen haben, das auf Computer zu übertragen. Dann gab es beispielsweise auf einmal Antiviren-Software und so weiter. Es gibt also da diesen großen Konnex, wo diese zwei Geschichten ineinanderlaufen und eigentlich miteinander mitlaufen.

SecHuman: Hattest Du schon immer ein Interesse an diesen Themen? Hängt das auch mit der wissenschaftlichen Disziplin zusammen, aus der Du kommst?

Mary Shnayien: Ich habe im Bachelor Theaterwissenschaft und Medienwissenschaft studiert und dies im Master mit Gender Studies ergänzt, weshalb ich da einen starken Schwerpunkt entwickelt habe. Meine Dissertation beruht schon auf einer medienwissenschaftlichen Perspektive, die aber auch eine Form von Kulturwissenschaft ist. Ich schaue mir an, wie Diskurse funktionieren und wie Medien an Aussagesystemen mitarbeiten. Vor allem interessiert mich die Frage, wie Medien eigentlich an der Herstellung der drei typischen Differenzkategorien ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class’ beteiligt sind – wobei in meiner Arbeit der Schwerpunkt auf Geschlecht und Körperlichkeit lag.
Etwas Technisches habe ich nie studiert, hatte aber immer eine Faszination dafür. Im Rahmen des Forschungskollegs SecHuman gab es zu Beginn die Vorlesung „IT für Geistes- und Sozialwissenschaften“ in der ich sehr viel gelernt habe, z.B. wie kryptografische Verfahren eigentlich funktionieren und wie ich das selbst berechnen kann. In meiner Dissertation gibt es einerseits Stellen, an denen ich kryptografische Zahlenspiele erkläre und andererseits Stellen, an denen ich sehr tief in die Queer Theory einsteige. Beide Perspektiven halten sich ungefähr die Waage.

SecHuman: Wenn Du an die Anfänge Deines Promotionsprojektes zurückdenkst – was hat Dich damals bewogen, Dich für eine Promotion im Rahmen des interdisziplinären Forschungskollegs SecHuman zu bewerben?

Mary Shnayien: Ich habe mich innerhalb der Medienwissenschaft schon immer für digitale Medien interessiert. Gleichzeitig hatte ich ein Interesse daran, auch den technischen Aufbau von Dingen zu verstehen, weil das wichtig ist, um sie gut analysieren zu können. Meine Masterarbeit habe ich dann über ‚privacy‘ und ‚social media‘ geschrieben – über einen Vergleich der Sozialen Netzwerke Facebook und Diaspora*. Am Ende meiner Masterarbeit war ich an einem Punkt, an dem ich gerne weiterforschen wollte – und zwar am liebsten in einem interdisziplinären Kontext, selbst wenn meine Methode vielleicht hauptsächlich in der Medienwissenschaft bleiben würde. So kam es zu der Bewerbung für SecHuman.
Benedikt Auerbach, mein Partner im Forschungstandem [Anm: in SecHuman forschen Doktorand*innen aus den Geisteswissenschaften zusammen mit Doktorand*innen aus den Technikwissenschaften an einem gemeinsamen Thema] war Kryptograf und hat nachweislich backdoorfreie Verschlüsselungsverfahren entwickelt. Das klingt zunächst nach einem sehr ‚unlikely couple‘, aber das Zusammenspiel aus Kryptografie und Medienwissenschaft hat richtig gut funktioniert. Er hat mir wirklich mit einer Engelsgeduld das ganze Fachgebiet erklärt – sogar Sachen, bei denen ich nicht mal wusste, wie ich danach fragen soll (lacht). Im Umkehrschluss habe ich ihn endlos mit Technikphilosophie und Medienphilosophie und Donna Haraways ‚Cyborg Manifesto‘ zugetextet. Es war fantastisch und ein sehr guter Austausch.

SecHuman: Das Forschungskolleg SecHuman ist von seiner Struktur her bereits auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angelegt. Das bedeutet, man forscht und arbeitet von Anfang an in der Praxis interdisziplinär zusammen – was ja durchaus auch anstrengend sein kann. Wie hast Du das wahrgenommen und was waren für Dich die größten Herausforderungen?

Mary Shnayien: Da bin ich ehrlich gesagt sehr naiv rangegangen. Wie bereits erwähnt, habe ich im Master Gender Studies studiert, was an sich bereits ein interdisziplinärer Studiengang ist. Er setzt sich u.a. aus Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Sozialwissenschaft und Geschichte zusammen. Vor diesem Hintergrund dachte ich: Ich habe ja bereits einen interdisziplinären Studiengang hinter mir, wie schlimm kann es werden? (lacht) Ich habe dann schnell gemerkt, dass es eine ganz andere Sorte Herausforderung ist, wenn man nicht innerhalb von Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften bleibt, sondern versucht, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften mit MINT-Fächern in Dialog zu bringen.
Es ist vor allem deswegen eine Herausforderung, weil es das ganze Erbe der so genannten ‚Science wars‘ gibt. Ein Auslöser dafür war der ‚Sokal hoax‘, bei dem der Physiker Alan Sokal in den 90er Jahren einen Hoax-Artikel bei einem sozialwissenschaftlichen Journal einreichte, welcher auch angenommen und publiziert wurde. Drei Tage nach Veröffentlichung des Artikels löste Sokal den Hoax in einem anderen Journal auf und sprach diesen Wissenschaften vor allem vor dem Hintergrund des Poststrukturalismus quasi ihre Wissenschaftlichkeit ab. Aus heutiger Sicht lässt sich u.a. kritisch anmerken, dass er die Reaktionen auf seinen Hoax-Artikel erst einmal hätte abwarten sollen – vielleicht wäre er ja als völlig unwissenschaftlich zerrissen worden? Aber gut, dieses Ereignis ging als ‚Sokal hoax‘ in die Geschichte ein – und seither gibt es tatsächlich alle paar Jahre ähnliche Hoax-Versuche. Das Problem an dieser ganzen Geschichte ist, dass der in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vorherrschende Relationalismus von Vertreter*innen der MINT-Fächern oft mit einem Relativismus verwechselt wird, bei dem Aussagen dann immer als relativ und als quasi nicht belastbar wahrgenommen werden. Dieses Ereignis hat darüber hinaus dazu geführt, dass ein gegenseitiges Misstrauen gegenüber den verwendeten Methoden entstanden ist.
Interessant finde ich, dass ich das auch selbst erst während der Dissertationsphase gemerkt habe – der ‚Sokal hoax‘ und die daraus resultierenden ‚Science wars‘ waren mir vorher kein Begriff. Als ich darauf gestoßen bin, wurde mir vieles klarer – vor allem, was wir als Doktorand*innen innerhalb des Kollegs miteinander aushandeln mussten. Viele Themen waren das Erbe dieser ‚Science wars‘, ohne dass uns das bewusst war. Es ist ja nicht so, dass während des Studiums jemand explizit zu Dir sagt: „Diese Geisteswissenschaftler da hinten, das sind irgendwie schon Spinner“ – das passiert viel implizierter, viel subtiler. Es sind diese kleinen Momente, wo man dann doch irgendwie ein bisschen misstrauisch ist, ob das wirklich richtig ist, wenn Leute mit dieser oder jener Methode arbeiten. Aber das haben wir in Aushandlungsprozessen dann ganz gut hinbekommen. Ein großer Ort dafür war vor allen Dingen das wöchentliche Kolloquium, bei dem man regelmäßig damit konfrontiert wird, wie andere Leute arbeiten und wie sie zu ihren Ergebnissen kommen. Für mich war damit auch die Frage verbunden, wie ich Ergebnisse aus der Kryptografie oder aus der IT-Sicherheit in meine Arbeit einbinden kann, ohne diese aus meiner Sichtweise zu überschreiben. Das heißt für mich auch, die Erkenntnisinteressen und Erkenntnisweisen dieser Disziplinen ernst zu nehmen ohne sie zu vereinnahmen oder zu bewerten. Das war ein Lernprozess.

SecHuman: Hat dieser Lernprozess sich von Anfang bis Ende durchgezogen?

Mary Shnayien: Bei mir hat er sich schon durchgezogen, ja. Ich habe am Anfang nur noch nicht verstanden, dass es auf diesen Lernprozess hinauslaufen würde. Was mir am Anfang auffiel war, dass ich mich mit manchen Doktorand*innen sehr gut austauschen konnte und mit manchen nicht. Interessant war aber auch, dass das nicht unbedingt nur disziplinär abhängig war. Mit meinem Tandempartner hat das von Anfang an sehr gut funktioniert, weil er eine sehr große Offenheit hatte. Wenn ich ihm von meiner Forschung berichtet habe, hat er eine eher mathematische Perspektive darauf eingenommen – wie bei einer Beweisführung. Wenn die aufeinander aufbauenden Argumente logisch waren in ihrer Gesamtstruktur, konnte er da mitgehen. Das war nicht mit allen so.

SecHuman: Es war also auch stark abhängig von den einzelnen Personen?

Mary Shnayien: Interdisziplinäre Arbeit funktioniert wirklich nur dann, wenn man auch auf einer persönlichen Ebene Respekt füreinander entwickeln kann. Das war eines der wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe. Wir haben uns im Kolleg nach einer Weile auch Workshops gegeben und uns bewusst dazu ausgetauscht, was es heißt, interdisziplinär zu arbeiten. Das ist auch alles notwendig und hat seine Berechtigung. Aber wenn man auf einer persönlichen Ebene keinen Respekt füreinander hat, hilft einem die ganze Theorie auch nichts.

SecHuman: Welchen Mehrwert hat der interdisziplinäre Ansatz für Dich mit sich gebracht?

Mary Shnayien: Für die Forschung ist der große Mehrwert auf jeden Fall, dass ich eine solche Arbeit nicht hätte schreiben können, wenn ich nur in meiner eigenen Disziplin geblieben wäre. Ohne diesen Einblick in die unterschiedlichen Ansätze, Arbeitsweisen und Fachkulturen wäre diese Arbeit eine ganz andere geworden – und ich bezweifle, dass sie besser geworden wäre (lacht). Ich bin davon überzeugt, dass es Themen gibt, bei denen eine rein disziplinäre Sichtweise nicht mehr sinnvoll ist und die Frage nach Sicherheit ist genau so ein Thema. Das betrifft so viele Lebensbereiche, deshalb sollte da auch interdisziplinär drauf geschaut werden.

SecHuman: Welche Tipps würdest Du Menschen geben, die interdisziplinär forschen und arbeiten?

Mary Shnayien: Grundsätzlich halte ich es für wichtig und sinnvoll, sich der eigenen Vorannahmen bewusst zu werden, wenn man in den Austausch mit anderen tritt. Das ist natürlich schwierig und manchmal schafft man es auch nicht alleine, diese Vorannahmen bei sich zu entdecken. Aber man hat oft eine Idee davon, wie so ein Austausch laufen könnte oder sollte – und warum. Das basiert auf einer eigenen disziplinären Schule, in der man sich bewegt, und auf der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation, wenn man das so ausdrücken möchte. Sich dessen bewusst zu werden ist wirklich relevant – denn in interdisziplinärer Arbeit ist nichts selbstverständlich.

SecHuman: Wie geht es nach Abschluss Deines Promotionsprojektes bei Dir weiter und inwiefern spielt Interdisziplinarität weiterhin eine Rolle?

Mary Shnayien: Ich werde demnächst an die Universität Paderborn wechseln und dort als Akademische Rätin tätig sein. Spannend ist, dass es an der Universität Paderborn einen regen Austausch zwischen der Informatik und der Medienwissenschaft gibt. Es ist für mich großartig, an dieser Schnittstelle arbeiten zu können – und dann schauen wir mal, welches spannende Forschungsthema sich als nächstes ergeben wird.

Die Dissertation von Mary Shnayien ist unter dem Titel „Die unsicheren Kanäle. Negative und queere Sicherheit in Kryptologie und Informatik“ als Open Access Publikation bei transcript erhältlich: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6306-8/die-unsicheren-kanaele/.